Marianne Krüger-Potratz, Berlin im September 2024
… an Alf denkend …
Kennengelernt habe ich Alf Anfang der 1970er Jahre in der GEW als engagierten, nachdenklichen wie diskussionsfreudigen Kollegen. Näher kennen und schätzen gelernt habe ich ihn dann, als ich beruflich mit ihm zu tun hatte, d.h. ab dem Moment, als er (übrigens nicht nur zu meiner Erleichterung) die Leitung des “Staatlichen Prüfungsamts für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen” in Münster übernahm. Auf ihn, seinen Rat und auch auf seine Hilfe in komplizierten “Prüfungsfällen” konnte ich mich verlassen, so auch wenn es galt die Prüfungsordnung für den viersemestrigen (mehrfach umbenannten) interdisziplinären Zusatzstudiengang “Interkulturelle Pädagogik / Deutsch als Zweitsprache” rechtlich korrekt mit der Studien- und Prüfungsrealität zu vereinen. Entwickelt hat sich eine Freundschaft mit Sabine und Alf, die uns bis zuletzt wichtig war; dies schließ die Bewohner des Dachgeschosses Jürgen Helmchen und Siegfried Gehrmann ein.
An Alf und seine vielfältigen Erfahrungen in den verschiedensten Bildungsbereichen und seinen Mut für andere, neue Lösungen habe ich sofort gedacht, als ich im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Thema Schulentwicklung überlegt habe, wen ich in Deutschland interviewen könnte und wollte: welche Schulleiter:innen, welche Bildungsexpert:innen. Das zentrale Stichwort des Projekts war “institutionelle Mobilität”: ein Oxymoron, eine Kombination aus zwei gegensätzlichen, einander widersprechenden Begriffen, mit dem das Spannungsverhältnis zwischen der Schule als ‚gestaltete‘ wie auch als ‚gestaltbare‘ und ‚zu gestaltende‘ Bildungseinrichtung begrifflich zu fassen versucht wird. Dieser Lesart folgend galt das Interesse der Frage, ob und in welcher Weise die Interviewten dieses Spannungs- oder Widerstreitverhältnis thematisieren und von welchen Strategien sie berichten würden, um diese Spannung zwischen dem Instituierten und den geforderten strukturellen Veränderungen erfolgreich zu bearbeiten.
Alf hat sich im Interview sehr nachdenklich und intensiv mit dem Begriff der “institutionellen Mobilität” auseinandergesetzt. Institutionelle Mobilität", so seine erste Annäherung im Interview, bedeute „eigenverantwortlich zu handeln“, sich „Freiräume gegen Widerstände“ zu verschaffen, es bedeute aus “gut begründeter pädagogischer Verantwortung etwas, was als instituiert und damit als selbstverständlich, als gegeben angesehen werde, infrage zu stellen, ggf. – bei sorgfältiger Abwägung möglicher Folgen – auch unter Verstoß gegen geltendes Recht.” Er erläuterte dies an verschiedenen Beispielen aus der eigenen beruflichen Praxis, unter anderem an einem Fall integrativer Beschulung aus seiner Zeit als Schulleiter, zu einer Zeit, als – abgesehen von ersten Versuchen – ein gemeinsamer Grundschulbesuch von Kindern mit und ohne besonderem Förderbedarf in Deutschland noch undenkbar war.
Er erzählte, dass eine italienische Mutter, die schon mehrere Kinder auf ‘seiner’ Schule hatte, zu ihm gekommen sei, weil das jüngste Kind, das lernbehindert war, wie gesetzlich vorgesehen, auf die zuständige Sonderschule gehen sollte. Diese habe jedoch weit ab von der Wohnung der Familie gelegen. Die Mutter klagte, dass damit ausgerechnet dieses schon benachteiligte Kind vom sonstigen Leben “abgeschnitten” würde. Denn um rechtzeitig in der Sonderschule sein zu können, müsse es eine Stunde eher aufstehen, um in den weit entfernten Teil der Stadt fahren, in dem die Sonderschule lag, und es käme erst eine Stunde später aus der Stadt wieder zurück. Auch habe er dann niemanden mehr, mit dem es sich ‘über Schule’ austauschen könne, das sei nicht richtig!
Dieser Argumentation, so Alf, habe er sich nicht verschließen können. Allerdings, die gesetzlichen Vorschriften waren andere! Letztlich jedoch, so Alf weiter, habe er – mit Hilfe des Ministeriums – Mittel und Wege gefunden, dass das Kind ausnahmsweise in seiner Schule eingeschult werden konnte. Das aber – so Alf im Interview – das sei ja so ein Stück Freiraum, von dem er zuvor gesprochen habe, den es sich zu verschaffen gelte. Aber, es gehe nicht nur darum, sich gegen vorhandene Vorschriften durchzusetzen. Dazu gehöre auch, Mittel und Wege zu finden, wie man das dann auch rechtlich, administrativ und institutionell absichern kann. In Alfs eigenen Worten: Dass die “zuständige Behörde diese fallbezogene Inklusion als Ausnahme” geduldet habe, sei nur deshalb möglich gewesen, weil viele andere Akteure, darunter das Kollegium der Schule, d.h. die “Kolleg:innen, die direkt und mittelbar von der Entscheidung betroffen waren, diese mitgetragen hätten”: Denn, so Alfs Folgerung: “Das geht ja nicht ohne, dass die Lehrerinnen und Lehrer mitmachen. Das geht ja nicht ohne, dass auch die anderen Kinder das mitmachen. Das geht ja nicht, ohne dass das alle mittragen. Also eine Problematik, die wir heute im Kontext Inklusion alle rauf und runter beten können” , … und nicht nur im Kontext von Inklusion, sondern generell in allen Bereichen des Bildungswesens.
Wir haben viel diskutiert, uns gemeinsam geärgert, oft gelacht, ich habe viel gelernt, herzlichen Dank, Alf. Marianne, im September 2024