Das Prüfungsamt für die Lehrämter der Universität Münster war bis vor einigen Jahren untergebracht in einem der vielfältigen Gebäude des Bispinghofs, Hausnummer 2, wenn ich mich richtig erinnere. Es gab einen offiziellen Eingang zu diesem Amt und einen Ausgang daraus, der sich nur von innen öffnen ließ. Nach erfolgten Prüfungen war dieser Ausgang eine willkommene Abkürzung zurück, sofern man seinen Arbeitsraum im anschließenden Gebäude des Hofes hatte. Auch schaute man, zumindest wenn man von der Georgskommende 33 kam, immer erst bei diesem Ausgang nach, ob er einem nicht etwa von dort Wartenden von innen geöffnet werden könne. Dies ersparte den Umweg über den Haupteingang. Bei Regen war das vorteilhaft.
Zwischen dem separaten Haupteingang und diesem Ausgang befand sich das Treppenhaus des Seminargebäudes, dessen Räume über dem Prüfungsamt lagen. Vermutlich war der Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Prüfungsamts nicht vertraut, dass im Vorraum dieses Treppenhauses, also an der Rückwand des Prüfungsamts im Gebäudeinneren, eine aus länger zurückliegender Zeit datierende Installation angebracht war, die – so ergaben Nachforschungen – aus einem Seminarprojekt entstanden war und die aus einem seiner Bildröhre entledigten alten, sehr alten Fernsehapparat bestand, in dessen nunmehr gähnenden Hohlraum eine Fassung für eine elektrische Birne eingebracht war. Diese Fassung war bestückt mit einem Leuchtkörper, der nur glomm, auch ein wenig flackerte. Dekorationsware für Partystimmungen oder auch, so wurde ich belehrt, für die roten Zylinder mit Goldrand, die auf Gräbern zum Andenken an die Seelen der Toten aufgestellt wurden. Über der Installation war ein Schild angebracht mit der Aufschrift: „Das Feuer der Aufklärung“. Inschrift und Leuchtkraft der Birne standen so deutlich in Kontrast zueinander, dass jeder, der diesem programmatischen Kunstwerk auch nur einen Moment Aufmerksamkeit schenkte, die Botschaft verstehen musste: Hier ging es um Medienkritik, die offenbar vor etlicher Zeit in einem Seminar das Thema war.
Kam ich an dieser Installation vorbei, begrüßte ich dieses Werk immer mit einer schmunzelnden Genugtuung. Gelegentliche Beobachtungen bei Benutzung des Treppenhauses führten mich zu der Auffassung, dass diese Medienkritik allerdings nur von wenigen Passanten überhaupt wahrgenommen wurde. Hin und wieder in Seminaren erfolgende Befragungen, wo denn in diesem Gebäude von Aufklärung die Rede sei, förderten in den allermeisten Fällen Ratlosigkeit hervor, wenn nicht gar die Frage, was unter Aufklärung zu verstehen sei. Immerhin, manchmal. Dann fiel nicht weiter auf, dass irgendwann das Lichtchen ganz erlosch. Zum Schluss fehlte auch noch das Schild. Das war, als schließlich die „Bologna-Reform“ in der Universität vollständig durchgesetzt war. Eine Ahnungslosigkeit gegenüber der Anspielung, die die Installation beabsichtigte, konnte indes dem Amt, dessen Außenwand diese Installation zierte, nicht unterstellt werden, zumindest wenn man davon ausgeht, dass ein Amt neben seiner amtlichen Aufgabe auch, wenngleich auch nur ein wenig, die auf seine Funktion bezogenen Einstellungen seiner Leitung zum Ausdruck bringt. Wie in jeder Institution waren aber diejenigen, die von dem Amt etwas wollten, zunächst gehalten, sich mit seinen Erwartungen auseinanderzusetzen, wenn nicht gar sich ihnen zu fügen. Das galt im strikten Sinne für die Formulare, die das Amt ausgab, für die beizubringenden Nachweise, in den Prüfungen galt das aber auch für die immateriellen Leistungen, die vor Kommissionen zu erbringen waren. In seltenen Fällen ließ sich jedoch beim Absolvieren dieser immateriellen Leistungen das Amt auch belehren, und das war dann zur Freude der für die Prüfung herbeigerufenen Kommissionsmitglieder und zum Vorteil für die Person, die, über die Erwartungen des Amtes hinausgehend, aus dem Ritual der Prüfung durch Nachweis eines gelungenen Studiums und kenntnisreiche Ausbreitung ihrer Überlegungen dieses Ritual unversehens in ein intelligentes Gespräch verwandelte.
Freilich war die Aufhebung verkniffener Abfragespiele und bemühter Mäeutik in diesen eher dunklen, an den Fenstern vergitterten und dazu noch in einer die Fantasie absolut nicht beflügelnden Farbe gestrichenen Räumen abhängig von den anwesenden Personen; sie gelang aber vergleichsweise häufiger, wenn die vom Amt zur Beiwohnung entsandte Person der Vorsitzende dieses Amtes selbst war: Alf Hammelrath.
Alf, so nenne ich ihn weiterhin, weil ich von Anfang meiner Zeit in Münster mit ihm befreundet war und wir auch außerhalb der von Amt und Einrichtung gegebenen Verhältnisse regen gedanklichen Austausch pflegten – Alf WAR das Feuer der Aufklärung!
Wollte man als Maxime zusammenfassen, was ihn in der Amtsführung, in den Prüfungssituationen, in Gesprächen mit denen, die sich den Prüfungen unterzogen und mit denen, die sie durchführten, zu leiten schien, könnte man ein historisches Dictum abzuwandeln versucht sein: Frage immer nach der Berechtigung dessen, was du andere fragst, und traue ihnen zu, selbst nach solcher Berechtigung zu fragen.
Nicht weit davon entfernt stand für Alf eine andere Maxime gleicher Ordnung. Bediene dich deines Wissens mit Verstand, aber nicht alles, was als Wissen auftritt, ist mit Verstand gesegnet. Selbstverständlich lässt sich über die unzähligen Varianten der Ableitungen aus diesen geistespraktischen Orientierungen nun ein lebendiger Streit entfachen. Und den gab es, zu jedem Anlass, der es verdiente. Dabei wurde ein jedes Ding auf seine Übereinstimmung mit der allgemeinen Vernunft hin befragt, und wenn nach gründlicher Überlegung festzustellen war, dass etwas mit allgemeiner Vernunft nicht zu vereinbaren war, wurde nach Gründen gesucht. Da wurde nichts aus Faulheit liegengelassen oder auch nur vertagt. Für Alf ist unbezweifelbar gewesen, dass es eine solche allgemeine Vernunft gibt und eine Verpflichtung darauf. Aber das schloss nicht aus, dass es unterschiedliche Perspektiven darauf und vielfältige Zugänge zu ihr geben könne. Ein Problem musste nicht gleich gelöst werden; es musste begriffen werden. Erst dann wäre an seiner Lösung zu arbeiten. Überheblichkeit war nicht am Platz, und das führte zu Fragen, die weiterführen konnten, nicht zu bloßen Affirmationen. Nur die Suspendierung der Vernunft, die Abschaltung des Verstands wurden nicht toleriert; war da nur ein leiser Verdacht, kamen lange, wiederholte Fragen. Das ging nicht ohne den Zwang zum Argument, und wo es wackelte, wo es vielleicht noch nicht ganz seine einleuchtende Form gefunden hatte, verstand Alf Aufklärung auch so, dass man sich selbst aufzuklären hätte – im Sinne der obigen Frage, etwas abgewandelt und auf die Sprechsituation bezogen: Frage dich immer nach der Berechtigung dessen, was du vorbringst, ohne taktische Spielchen und ohne im Gespräch nur einen Sieg davontragen zu wollen.
Für Alf war das Gespräch die Aufklärung und Aufklärung führte zum Gespräch. Ohne Verstand, der zum Verstehen führt, stand die Nützlichkeit des Gesprächs in Zweifel. Zorn kam bei ihm auf, wenn Gespräche erzwungen wurden, die diesem Ziel nicht dienten. Reine Zeitverschwendung! Mehr noch: ein Affront gegen die Menschlichkeit eines jeden Menschen, denn der ist, wie affektvoll er auch immer auftreten möge, der Kern der Vernunft. Die Benutzung einer dem Menschen eigenen Eigenschaft, nämlich mit dem Sprechen ein ihr, der Vernunft, äußeres Ziel zu erreichen, jemanden oder einen Teil der Welt zu beherrschen, jemanden hinter das Licht zu führen statt davor, entfachte die zornige Kraft des Feuers – der Aufklärung. Und wie bei der Göttin der Weisheit selbst musste man sich vor ihrer Schärfe und ihrer Präzision hüten. Da gab es kein umständliches Herumhopsen, keine faulen Kompromisse und Gefälligkeiten. Die Vorstellungswelt in bequeme Ungewissheiten aufzulösen, wo jeder sein Ding machen könne – ja, was sollte das denn werden?
Vorsicht: das war nicht das, was die schnellen Hasen des Geistes hier und dort gern als konservativ bezeichnen oder aus absolutem Modernismus heraus mit „von gestern“ quittieren. Ein schönes Gespräch hatte ich mit ihm über das Wort „evidenzbasiert“.
Die Beanspruchung der Vernunft war mit Fröhlichkeit versehen. Keine Wüterei! Denn Alfs Überzeugung nach waren Vernunft und ihre Betätigung mit Schönheit verbunden. Fast könnte man überlegen, ob Alf meinte, nur schönes Denken wäre vernünftig, was nicht geheißen hätte, dass nur Schönes denken vernünftig wäre. Da folgte er Brecht, aber da mag auch die ästhetische Seite der historischen Aufklärung ihn fasziniert haben. Warum auch nicht? Das Proportionierliche kündet vom Maß, und bei allem Bestehen auf der Praxis der Vernunft war darin auch das Maß der Vernunft eingeschlossen. Solches ermöglicht Engagement, politisch und sozial.
Die langen Telefongespräche zwischen Münster und Berlin: über den Wahnsinn der Zeit, über Krieg und Frieden, über wie man lehren soll und wie zuhören oder auch wie etwas besser zu schreiben wäre, über was zu tun wäre und wohin man sich wenden könnte und die rar gewordenen Begegnungen werden mir fehlen. Aber ich bin sicher: sie fehlen nicht nur mir; sie kamen der Welt abhanden.